Kondolenzbuch

Siegfried Gerlich # Lieber Manuel,

ich vermute, daß mit der griechischen Tragödie vertraute Regisseure, anders als normal Sterbliche, weder in den Himmel noch in die Hölle kommen, sondern im Hades landen; und für den Fall, das Du mich in dieser mythischen Unterwelt hören kannst, rufe ich Dir hinterher: Es ist meine Schuld und wirklich eine Schande, daß ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte nur eine einzige Regiearbeit von Dir gesehen habe!

Die aber hat sich gelohnt. Es war ein kleines, nicht subventioniertes Provinztheater, an dem Du mit sparsamsten Mitteln eines der ganz großen Stücke des Welttheaters buchstäblich auf die »Bretter« (denn viel mehr war da nicht) brachtest: Romeo und Julia. Und zu sehen, wie scheinbar leicht Dir alles dabei glückte, war für mich eine Erfahrung, die mit dazu beigetragen hat, daß ich, obschon Dozent an einer Schauspielschule, seit vielen Jahren kaum mehr ins Theater gehe.

Wenn ich nämlich sehe, welche enormen Mittel unsere hochsubventionierten großen Theater auf die volkspädagogische Zurichtung und »woke« Mißhandlung von Bühnenklassikern verschwenden, muß ich immer wieder daran denken, daß Du seinerzeit einer ganz bescheidenen Maxime folgen mußtest (die leider nicht von Deinem geliebten Brecht, sondern von meinem geliebten Benn stammt): »Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen!«

Dazu sind freilich auch heute noch zahlreiche Regisseure genötigt, aber Du jedenfalls wußtest aus Deiner finanziellen Not eine künstlerische Tugend zu machen. Ohne Dich an den Tropf irgendeines Zeitgeistes zu hängen, hast Du mit einer selten gewordenen schöpferischen Unschuld dieses scheinbar vernutzte Theaterstück wieder so lebendig und gegenwärtig werden lassen, als wäre es noch nie aufgeführt worden.

Dein Beispiel lehrt: Ein guter Regisseur ist nicht, wer auf Kosten des Dramatikers seinen Narzißmus luxurieren läßt, sondern wer sich vor dessen Werk verneigt, indem er sich in seiner Arbeit daran zum Verschwinden bringt und allen Bühnenruhm den Schauspielern gönnt.

Also: Sollte es im Hades zu langweilig werden, dann weißt Du, was auf dieser antiken Unterbühne zu tun ist!